Kopftuch

Aufgrund aktueller Debatten rund ums Kopftuch hier ein Kapitel aus dem Buch „Muslimin sein – 25 Fragen, 25 Orientierungen“ von Carla Amina Baghajati, erschienen 2015 bei Tyrolia.

Gibt es eine Kopftuchpflicht – auch beim Schlafen?

Das Kopftuch wirkt in vielen Diskussionen wie ein Platzhalter für alle Themen, die mit Frausein im Islam zu tun haben. Als äußerlich sichtbares Kleidungsstück scheint es das „Anderssein“ zu markieren. Vor allem der direkte Dialog ist hier wichtig, um gegenseitige Missverständnisse auflösen zu helfen.

Wer kopftuchtragende Musliminnen im Alltag erlebt, kann sich vielleicht schwer vorstellen, dass diese verhüllten Frauen sich zu Hause oder bei reinen Fraueneinladungen auch ganz anders geben. Darum wird auch die Frage geäußert, ob das Kopftuch rund um die Uhr und bei allen Gelegenheiten getragen werde. Gerade weite Mäntel bieten den Vorteil, darunter einen ganz anderen Kleiderstil verstecken zu können, der dann bei passender Gelegenheit zur Geltung kommt. Die Bekleidung muslimischer Frauen wurde schon mit dem Äußeren eines orientalischen Hauses verglichen, dessen Fassade schmucklos und schlicht daherkommt, während sich dahinter die Schönheit duftender Gärten, Springbrunnen und mit Ornamentik verzierte Räume verbergen. Wer sich mit damit ein wenig auseinandersetzt, tut sich vielleicht auch leichter, das „Warum?“ nachvollziehen zu können, weil damit klar wird, dass muslimischen Frauen nicht abverlangt wird, ihre Weiblichkeit zu verleugnen. Zu diesem „Warum?“ kommen wir später noch. Zuerst geht es ums „Wie?“

Muslimische Frauen halten es oft genau umgekehrt wie nichtmuslimische Frauen: Wenn sie nach draußen gehen, dann dezent und unauffällig, wenn sie zu Hause sind, haben sie Spaß daran, sich herzurichten. Das betrifft insbesondere auch Treffen unter Frauen – selbst wenn gar kein großer Anlass vorliegt. Wer das nicht weiß, ist underdressed und fühlt sich schnell einmal wie Aschenputtel – bevor die Fee mit dem schönen Kleid kam. Witzig kann sein, wenn man manche Frauen sonst fast immer mit Kopftuch sieht und dann mit geschickt aufgetragenem Makeup, toller Frisur und die Figur betonendem Kleid erlebt – nicht immer gleich zum Wiedererkennen.

Die gelöste Heiterkeit einer weiblichen Feierrunde auch Frauen erlebbar zu machen, die diesen Teil der muslimischen Kultur nicht kennen, war eine Idee, die einige Freundinnen umsetzten. In privatem Rahmen wurden Multiplikatorinnen der Wiener Gesellschaft eingeladen – Politikerinnen, Journalistinnen, Frauen, die wir aus dem interreligiösen Dialog kannten und andere interessante Persönlichkeiten. Wir Musliminnen hatten ausgemacht, ohne Kopftuch, also „oben ohne“ zu sein – ganz, wie wir das auch bei einem anderen Anlass des untereinander Feierns wären. Köstliches Essen, offene Gespräche, gemeinsames Lachen – bis ganz unvermittelt eine der Musliminnen verkündete: „Das Kopftuch ist eine Pflicht!“ War es die Unerbittlichkeit im Ton oder die Aussage selbst – eisiges Schweigen kehrte ein. Nach einer Schrecksekunde ermöglichte es das zuvor aufgebaute Vertrauen darüber zu reden, warum dieser Satz beinahe die gute Stimmung zerstört hätte. Die Muslimin wollte ausdrücken, dass ihr das Kopftuchtragen aus religiösen Gründen so wichtig sei – für sie eine Pflicht darstelle, der nachzukommen sie sich entschlossen habe, und dass sie sich das von niemandem verbieten lassen wolle. Bei den Gästen war das aber ganz anders herübergekommen.

Das Wort „Pflicht“ weckte bei ihnen Bilder von Zwang und Bevormundung. Die Älteren in der Runde erinnerten sich, wie dieses Wort in der Nazizeit für Propagandazwecke missbraucht wurde. Seither seien sie prinzipiell misstrauisch, wenn ihnen jemand etwas von einer „Pflicht“ erzählen wolle. Und in Bezug auf das Kopftuch sei das ja eine der unterschwelligen Ängste: dass das Tragen eine solche Pflicht sei, dass diese auch überwacht werde – Kopftuchzwang und so. Die muslimischen Frauen überlegten dann, welchen Begriff sie statt „Pflicht“ in der Muttersprache verwenden würden – nämlich fard. Das ist eigentlich ein theologisches Fachwort, das eine theologische Verpflichtung ausdrückt, welches die Bosnierinnen ebenso wie die Türkinnen und Araberinnen kennen. Auf einmal hatten wir gemeinsam im Dialog einen Stolperstein so manchen Gesprächs entdeckt, an den niemand von uns vorher gedacht hatte: Wenn Begriffe aus anderen Sprachen übersetzt werden, so übernehmen sie bei der Übertragung auch alle Färbungen an, die historisch entstanden sind. Flugs redeten wir aneinander vorbei – und hatten es diesmal gemerkt, was uns eine wichtige Erkenntnis für zukünftige Gespräche bescherte und sofort eine neue Nähe herstellte. So wurde es möglich, auch offen Unbehagen über das Kopftuch auszusprechen. Wäre das Tuch nicht doch ein Zeichen für die Unterdrückung der Frau? Würden das alle wirklich freiwillig aufsetzen? Könnte man sich damit frei fühlen?

So viele Kopftuchträgerinnen, so viele individuelle Geschichten stehen dahinter. Inzwischen gibt es auch einige Publikationen, die anstatt nur von außen über das Kopftuch zu reden, Kopftuchträgerinnen zu Wort kommen lassen.[i] Die Motivation, es zu tragen, hat als gemeinsame Klammer die religiöse Bindung. Daneben tauchen sehr verschiedene Beweggründe auf: Junge Mädchen setzen darauf, damit ihre Eltern ihnen dann mehr vertrauen und sie beim Ausgehen mehr Freiheiten genießen; sie haben Spaß daran, mit dem Kopftuch auch modisch zu spielen und dabei durchaus ein Stück zu provozieren – in alle Richtungen. Denn ein Kopftuch zu knallengen Jeans kann auch bei traditionellen Muslimen anecken. In jenen Ländern Europas, in denen sich erst seit wenigen Jahrzehnten Muslime niedergelassen haben, ist die religiöse Motivation noch ausgeprägter als in den Herkunftsländern. Angesichts vieler Ressentiments reflektieren Kopftuchträgerinnen stärker als anderswo, warum sie es aufsetzen. Die Gruppe jener Frauen, die Kopftuchträgerinnen sind, weil es schon immer so in ihrer Familie war, ist also kleiner geworden. Wer von sich selbst und der eigenen Kopftuch-Aversion darauf schließt, dass eine Kopftuchträgerin gar nicht anders als dazu gezwungen sein könnte, macht einen Denkfehler. Inzwischen gibt es auch erste statistische Erhebungen zur Rolle der Männer in der Kopftuchfrage. Eine aktuelle Studie weist aus, dass nur 16 % es für berechtigt halten, Frauen das Kopftuch aufzudrängen, während weit über die Hälfte sich dafür ausspricht, dass dies die Frauen selbst für sich entscheiden müssten.[ii]

Das Kopftuch so wie die Bekleidung insgesamt hat sich in den letzten Jahren verändert. Sie ist modischer geworden. Aus den schlecht sitzenden sackartigen Mänteln in gedeckten Farben sind durchgestylte Bekleidungsstücke geworden, zu denen passende Seidentücher getragen werden. Viele Frauen kombinieren das Tuch mit Jeans und langärmeliger Tunika. Hand in Hand damit geht die Entwicklung einer ganzen Bekleidungsindustrie, die wie die großen Modehäuser jede Saison neue Kollektionen auf die Laufstege schickt. Manche der Designer arbeiten auch für große Marken. Modefarben und andere Trends spiegeln sich dann in der muslimischen Bekleidung. Die größte Neuentwicklung war ohne Zweifel der so genannte „Burkini“, ein Ganzkörperbadeanzug aus einem Hightechmaterial, das ein sportliches Schwimmen ermöglicht, kaum Wasser aufnimmt und sehr schnell wieder trocknet. In Australien, wo er zuerst entwickelt wurde, wird er auch von Nichtmusliminnen getragen, weil dort der Schutz wegen des drohenden Hautkrebses eine noch größere Rolle spielt als hier. Diese Trends zeigen, wie neue Wünsche muslimischer Frauen, für verschiedene Gelegenheiten passend gekleidet zu sein, vom Markt aufgegriffen werden. Der Aktionsradius der muslimischen Frau hat sich vom Haus auf die Bereiche Sport, Business und Freizeit erweitert. Zumindest in den größeren Städten gibt es Geschäfte speziell für die muslimische Frau. Vor allem die Türkei ist ein Exportland für derartige Mode geworden. Das wiederum hat Diskussionen unter Muslimen, vor allem bei den Frauen selbst, angestoßen, wie islamisch diese schicken Outfits noch seien. Ginge da nicht der Gedanke der Bescheidenheit verloren? Würden muslimische Frauen nicht in die Konsumfalle tappen, wenn sie ihre Garderobe ständig wegen eines Modediktats erneuern müssen? Wie viel Figur darf der Schnitt zeigen?

Betrachten wir also nun den theologischen Hintergrund des Kopftuchtragens. Bei Vorträgen spreche ich es gerne erst ganz am Ende an, um anzuzeigen, dass es bei weitem nicht den Stellenwert hat, wie in der Verkürzung „muslimische Frau = Kopftuch“. Bevor die beiden Stellen näher beleuchtet werden, an denen das Kopftuch thematisiert wird, sei ein Vers zitiert, der ganz prinzipiell auf Bekleidung eingeht: „Oh Kinder Adams! Fürwahr, Wir haben euch von droben (das Wissen der Herstellung der) Gewänder erteilt, um eure Blöße zu bedecken und als eine Sache der Schönheit; aber das Gewand des Gottesbewusstseins ist am allerbesten. Hierin liegt eine Botschaft von Gott, auf dass der Mensch sie sich zu Herzen nehmen möge!“[iii] Hier wird der praktische Aspekt der Bekleidung als Schutz verbunden mit Freude an der Ästhetik schöner Kleidung, vor allem aber mit dem „Gottesbewusstsein“. Die Kleidung, mit der ich nach außen auch die Möglichkeit habe, meine Persönlichkeit zu unterstreichen, und in der immer die Möglichkeit der Selbstinszenierung und Selbstdarstellung steckt, soll daran erinnern, dass dies nicht nur eine schöne Fassade sein darf. Dahinter muss eine ehrliche Haltung stehen. Selbstverständlich gilt dieser Vers für Männer und Frauen. Später kann uns noch besonders interessieren, dass eindeutig diese innere Haltung höher gewertet wird als die Äußerlichkeit der Kleidung.

 

Bevor in Sure 24 an-nur („Das Licht“) die weibliche Kopfbedeckung angesprochen wird, heißt es in Richtung der Männer: „Sag den gläubigen Männern, dass sie ihren Blick senken und auf ihre Keuschheit achten sollen: Dies wird für ihre Reinheit am förderlichsten sein – und wahrlich, Gott ist all dessen gewahr, was sie tun.“[iv] Wer immer also das Kopftuchtragen in erster Linie als Schutz vor sexuellen Übergriffen der Männer sehen will, wird hier eines besseren belehrt. Denn den Männern wird ausdrücklich aufgetragen, dass sie niemanden selbst mit Blicken belästigen dürfen – geschweige mit Taten. „Den Blick senken ist dabei“ als Bild zu verstehen, Frauen mit Respekt zu behandeln. Das Wort von der „Reinheit“, von dem wir bereits festgestellt haben, dass es im traditionellen Verständnis, das dann schnell in Rollenzuschreibungen mündet, vor allem auf Frauen bezogen wird, bezieht sich hier eindeutig auf die Männer. Dieser Vers ist sehr hilfreich, gutes Benehmen gegen alle Frauen einzufordern. Sexuelle Belästigung – egal, ob eine Frau einen Minirock oder ein Kopftuch trägt – ist verboten und mit nichts zu entschuldigen – erst recht nicht mit Machosprüchen.

 

Im unmittelbar anschließenden Vers heißt es dann: „Und sag den gläubigen Frauen, ihren Blick zu senken und auf ihre Keuschheit zu achten, und nicht ihre Reize in der Öffentlichkeit über das hinaus zu zeigen, was davon (schicklicherweise) sichtbar sein mag; darum sollen sie ihre Kopfbedeckungen über ihre Busen ziehen …“[v] Die Wortwahl zu Beginn ist die gleiche wie in Bezug auf die Männer – Männer und Frauen wird das gleiche gute Benehmen gegenüber dem anderen Geschlecht aufgetragen. In Bezug auf das Kopftuchtragen ist dann „Kopfbedeckungen über die Busen ziehen“ entscheidend. Damalige Frauen trugen bereits ein Tuch, das allerdings eher über den Rücken fiel und den Haaransatz und das Dekolleté frei ließ. Die vorhandenen Kopfbedeckungen wurden also von den Frauen benutzt, um sie über Haaransatz und Ausschnitt zu ziehen. Wichtig für die Frage, vor wem sich die Frauen bedecken sollen, ist der zweite Teil des Verses, wo eine genaue Auflistung jener Personen erfolgt, auf die das zutrifft. Wollte man diesen Personenkreis auf eine Kurzformel bringen, dann geht es um alle, die eine Frau theoretisch ehelichen könnte. Damit ergibt sich eine Aufteilung zwischen einem privaten Bereich und dem öffentlichen.

 

Das Kopftuch wird ansonsten nur an einer weiteren Stelle thematisiert, die historisch betrachtet zuerst geoffenbart wurde. Dort heißt es: „Oh Prophet! Sage deinen Ehefrauen und deinen Töchtern wie auch allen anderen gläubigen Frauen, dass sie in der Öffentlichkeit etwas von ihren äußeren Gewändern über sich ziehen sollen: Dies wird eher förderlich sein, dass sie (als anständige Frauen) erkannt und nicht belästigt werden. Aber überdies, Gott ist fürwahr vielvergebend, ein Gnadenspender!“[vi] Hier lohnt es sich, mit dem Ende des Verses zu beginnen. Viele Koranverse weisen eine Struktur auf, dass nach einem Gebot oder noch öfter nach einer ethischen Anweisung eines der Attribute Gottes angeführt wird. Oft erscheinen hier Attribute der Allmacht Gottes, die zusätzlich an das Gewissen des Gläubigen appellieren. Denken wir nur an das mahnende: „Gott ist all dessen gewahr, was sie tun“, das am Ende des Verses 24:30 steht, wo die Männer angewiesen werden, sich anständig gegenüber Frauen zu verhalten. Hier aber wird die Barmherzigkeit Gottes angesprochen, die Bereitschaft zu vergeben und Gutes (Gnaden) an die Menschen zu geben. Ein solcher Ton passt auf keinen Fall damit zusammen, Druck auf Frauen ausüben zu wollen, um sie zum Kopftuchtragen zu zwingen.

 

Interessant ist, dass dieser Vers im Vergleich zu 24:31 zwei Punkte nennt, die als Begründung für das Kopftuchtragen gelten könnten: die Erkennbarkeit als gläubige Muslimin und das Nicht-belästigt-Werden. Hier zeigt sich einmal mehr, wie wichtig es ist, den Koran in seinem Gesamtkontext zu sehen. Denn wer diese Passage isoliert interpretiert, könnte leicht ins Fahrwasser von Schutzbegründungen geraten, die immer den schlechten Beigeschmack haben, als müssten weniger die Frauen vor den Männern geschützt werden, als vielmehr die Männer vor der personifizierten Versuchung in Form der Frau und ihrer Sexualität. Solche Sichtweisen zu überwinden, gelingt nicht nur über den Einspruch weiblicher Theologinnen, sondern auch über den der Männer, die eigentlich auch nicht damit einverstanden sein dürften, als potentiell übergriffig zu gelten angesichts ihrer angeblich nicht zu kontrollierenden sexuellen Gelüste. Eine gemeinsame Basis ist hier das eingangs zitierte Gottesbewusstsein, das wie ein Kleid von jedem, Mann und Frau, getragen werden sollte und als Mantel des Gewissens Schutz vor eigenen und fremden niederen Gedanken und Trieben bietet.

Eine für Außenstehende befriedigende Antwort auf die Frage, warum Frauen das Kopftuch tragen, lässt sich sehr schwer formulieren. Bei Glaubensdingen stoßen wir mitunter an Grenzen des rational Nachvollziehbaren. Das Kopftuchtragen wird von Frauen als Teil des religiösen Praktizierens angenommen, weil sie nachempfinden können, dass in einem religiösen Gebot keine „Schikane“ Gottes liegen kann, sondern etwas, das ihnen zugutekommt. Schön ist der Vergleich „Ein Regenmantel für die Seele“ der iranischen Psychoanalytikern Gohar Homayounpour.[vii] Ihr gelingt es ein Bild zu finden, das bei der Lebenswirklichkeit der Frau ansetzt und eher eine persönliche Geborgenheit ausdrückt, als dass es die Frau nötig hätte, sich vor dem Außen zu schützen.

Alle Auslegungstraditionen („Rechtsschulen“) sind sich einig darin, dass das Kopftuchtragen einen Teil der Glaubenspraxis ausmacht. Zusätzlich zu den zitierten Koranversen beziehen sie sich dabei auf Aussagen des Propheten, der auf die Frage, was von einer Frau öffentlich sichtbar sein solle, einmal durch Gesten gezeigt haben soll, dass es um Gesicht, Hände und Füße gehe. Überliefert ist auch, wie die Frauen nach der Offenbarung der genannten Verse dem sofort nachkamen und die Art, wie sie sich kleideten. Schließlich wird aus einem weiteren Hadith gefolgert, dass Kleidung nicht eng anliegend und nicht transparent sein dürfe. Zusammengenommen ergibt sich für die breite Mehrheit der Gelehrten die Einstufung des Kopftuchtragens als fard und damit als eine Handlung, die religiös vorgeschrieben ist.

 

Andere Meinungen sind sehr selten. In den letzten Jahren versuchten einige Musliminnen eine Argumentation, die sich hauptsächlich darauf stützt, dass das Wort „Kopftuch“ nicht explizit im Koran vorkommt, sondern lediglich Umschreibungen zu finden sind.[viii] Damit sind sie aber nicht durchgedrungen. Das Kopftuch lässt sich auch wegen der Quellenlage im Hadith nicht einfach wegdiskutieren und der historische Hintergrund zeigt, dass das Kopftuch bei den ersten Musliminnen präsent war. Ernster zu nehmen ist der tafsir von Muhammad Asad. Darin plädiert er dafür, stärker den Ort und die dort üblichen Kleidungsgewohnheiten zu berücksichtigen. Er setzt bei der Absicht eines dezenten Auftretens an und gibt so mehr Interpretationsspielraum: „… macht klar, dass dieser Vers nicht ein Gebot (hukm) im allgemeinen, zeitlosen Sinn des Begriffs sein sollte, sondern vielmehr eine vor dem stets wechselnden Hintergrund von Zeit und gesellschaftlicher Umgebung zu befolgende moralische Richtlinie“[ix]. Allerdings wurde er dafür auch harsch kritisiert – als jemand, der die Religion verwässere und dem Westen nur nach dem Mund reden wolle. Seine Meinung könnte tatsächlich schmählich missbraucht werden, um politische Forderungen nach Kopftuchverboten zu befeuern – was ihm wohl keinesfalls behagt hätte.

 

Je stärker Kopftuchgegner Stimmung machen, desto weniger Chancen hat eine Position wie jene von Muhammad Asad durchzudringen. Denn nichts disqualifiziert im innermuslimischen Diskurs mehr, als wenn einem vielleicht neuen Gedanken vorgeworfen wird, er sei nur entstanden um „dem Westen“ schönzutun. Für ein Einbeziehen der allgemeinen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen spricht der historische Hintergrund, vor dem der Kopftuchvers geoffenbart wurde. Als Hinabsendungsanlass (asbab an-nuzul) gilt der Umstand, dass Frauen in Medina von Wüstlingen aufgelauert wurde, wenn sie nachts zur Verrichtung ihrer Notdurft die Häuser verließen. Die Kopfbedeckung machte sie als freie Frau erkennbar, so dass diese Männer sie in Ruhe ließen.[x]Übrigens ist dies auch ein interessanter Hinweis auf die Wertigkeit des Kopftuchs, das schon vom Zeitpunkt der Thematisierung ungefähr zehn Jahre nach Beginn der Offenbarungen her gewiss nicht als „religionsstiftend“ betrachtet werden darf.

 

Selbst wenn das Kopftuchtragen überwiegend als eine religiöse Muss-Bestimmung gesehen wird, wäre es trotzdem unzulässig, eine Frau dazu zwingen zu wollen. Wie bei allen Bereichen der Glaubensausübung gilt das viel zitierte: „Kein Zwang in der Religion!“[xi]. Das Gebet beispielsweise stellt eine „Säule der Religion“ dar und genießt damit einen wesentlich höheren Stellenwert als das Kopftuchtragen. Anders als beim Kopftuch hat sich aber weder innermuslimisch noch von außen eine Diskussion um eine „Gebetspflicht“ entwickelt. Es leuchtet ein, dass es hier um eine persönliche Entscheidung geht, wie man es damit halten wolle, in der Verantwortung vor Gott und nicht in erster Linie vor den Menschen.

 

Verbunden mit dieser persönlichen Verantwortung soll das Selbstbestimmungsrecht auch in Bezug auf das Kopftuch gelten. Immerhin scheint es im Verlauf der diversen Wellen von öffentlichen Diskussionen gelungen, den Begriff Selbstbestimmung als gemeinsamen Nenner zu etablieren. Dies hat auch innermuslimischen Debatten insofern geholfen, als damit ein Stück Bewusstseinsbildung für die eigene mündige Entscheidungsfreiheit der Frau geleistet wurde. Diese Diskussionen sind auch darum so wichtig, weil es höchst kontraproduktiv wäre, wenn die Emotionalität der Kopftuchdiskussionen sich religionsintern auswirken würde. Ganz im Gegenteil ist es ein wichtiges Zeichen, wenn muslimische Frauen, ob mit oder ohne Kopftuch, zusammenstehen und klarmachen, dass es für sie wesentlich wichtigere Themen als das Kopftuchtragen gibt.

 

Derzeit ist dies leider noch nicht selbstverständlich, weil auch von außen Polarisierungen angetrieben werden. In den Medien werden Frauen ohne Kopftuch als liberal und frei präsentiert, während eine Kopftuchträgerin dagegen ankämpfen muss, nicht von vornherein als konservativ und reaktionär zu gelten. Vor allem von den Frauen selbst kann aber eine Verweigerung jeder Ideologisierung des Kopftuches ausgehen. Ideologisierungen gibt es seitens radikaler Kopftuchgegner ebenso wie von Interessengruppen, die gerne ein möglichst geschlossenes Bild islamischer Frömmigkeit nach außen transportieren möchten. In beiden Fällen geht dies zu Lasten der Frauen, die so oder so schubladisiert und zur jeweils favorisierten Form des weiblichen Erscheinungsbildes genötigt werden sollen. Wer Kopftuch trägt, ist nicht automatisch unfrei. Wer keines trägt, ist nicht automatisch eine schlechte Muslimin.

 

Die Sichtbarkeit des Kopftuches lässt sich nicht ändern. Ändern aber lässt sich, dass damit Propaganda betrieben wird. Das Kopftuch ist weder im Guten noch im Schlechten ein Symbol für den Islam, sondern schlicht und einfach ein Stück Stoff, das einen Aspekt der Glaubenspraxis muslimischer Frauen zum Ausdruck bringt, für oder gegen die sie sich frei entscheiden können sollen.



[i] z. B. Monika Höglinger: Verschleierte Lebenswelten. Zur Bedeutung des Kopftuchs für muslimische Frauen. Maria Enzersdorf (Edition Roesner) 2002 oder Petra Stuiber: Kopftuchfrauen. Ein Stück Stoff, das aufregt. Mit Fotos von Katharina Roßboth.Wien (Czernin) 2014

[iii] Koran 7:26 in der Übertragung von Muhammad Asad

[iv] Koran 24:30 in der Übertragung von Muhammad Asad

[v] Koran 24:31 in der Übertragung von Muhammad Asad

[vi] Koran 33:59

[vii] In einem Interview mit Lukas Wieselberg für science.orf.at im September 2009

[viii] Vgl. z. B. Nehid Selim: Nehmt den Frauen den Koran. München (Piper) 2003

[ix] Muhammad Asad: Die Botschaft des Korans. Düsseldorf (Patmos) 2009. S. 810

[x] Vgl. Amir Zaidan: Fiqhul-ahwaalischach-siyyah. Gebote der Bekleidung, Ernährung und Personenstandangelegenheiten. Wien (Islamologisches Institut) 2010. S. 84

[xi] Koran 2:256