Muslimische Frauen und Demokratie

Folgender Text von Carla Amina Baghajati erschien 2008 in dem Band "Frauen und Politik - Nachrichten aus Demokratien", hrsg. von Birge Krondorfer, Miriam Wischer und Andrea Strutzmann 

Die Begriffe „muslimische Frau“ und „Demokratie“ wie selbstverständlich nebeneinander zu stellen, mag zuerst einmal verwundern. Jedes der Themen für sich ist im aktuellen Diskurs um den Islam derartig stark mit der skeptischen Frage nach der Kompatibilität des Islam mit der Moderne verbunden, dass sich in der Wahrnehmung womöglich sogar ein Widerspruch auftut. Sind muslimische Frauen nicht durch ihre Religion mit einer ganzen Reihe von Benachteiligungen gegenüber Männern konfrontiert? Wie kann sich aus einer dem Islam oft als immanent angelasteten „Unterdrückung der Frau“ überhaupt ein Partizipieren in der Gesellschaft entwickeln, geschweige denn eine Teilhabe am politischen Geschehen? Und – lässt der Islam überhaupt Demokratie zu? Doch gerade weil einerseits Klischees über die Lebenswelt von  Musliminnen und Muslimen einen sachlichen und realitätsbezogenen Zugang häufig verstellen und andererseits tatsächlich die Situation von Frauen in muslimisch geprägten Gesellschaften alles andere als zufrieden stellend ist, ist das Nachdenken über den Anteil muslimischer Frauen an demokratischen Prozessen so bedeutend - und wie dieser auch jenseits aller politischer Instrumentalisierung (Schließlich wurden und werden Kriege unter beiden Aspekten zu legitimieren gesucht) zu fördern ist. 

Voraussetzungen für gleichberechtigte Teilhabe von MuslimInnen in Europa

 „Die richtige Frage ist die Hälfte der Wissenschaft“, soll der vierte Kalif Ali einmal gesagt haben. Viele der aktuellen Fragen, die an die Muslime in Europa derzeit herangetragen werden, implizieren bereits eine (negative) Antwort und sind dadurch mitverantwortlich, dass der Diskurs oft den Charakter einer Spirale ständiger Rechtfertigungen trägt. – Dann, wenn etwa die Frage nach der Trennung zwischen Staat und Religion, die angeblich nicht vollzogen sei, völlig ausklammert, ob historische Prozesse im Orient überhaupt vergleichbar mit jenen im Okzident seien. Während Muslime in Europa sich wiederholt in diversen Dokumenten zum säkularen System bekennen, müssen sie sich gleichzeitig immer wieder fragen, inwieweit Säkularität in Europa überhaupt für sie konkrete Anwendung findet oder nicht vielmehr – mit dem Hinweis auf die mangelnde Verfasstheit des Islam und damit fehlender Ansprechpartner – sich der Staat bei sensiblen Bereichen, die direkt in die „Regelung innerer Angelegenheiten“ und damit die Religionsauslegung eingreifen, auf die Expertise von außen durch Gutachten verlässt. Damit ist für Muslime in Europa die Trennung von Staat und Religion immer wieder verwischt. Österreich hebt sich durch das Islamgesetz von 1912 und die 1979 gegründete Islamische Glaubensgemeinschaft als offizielle Vertretung für die religiösen Angelegenheiten der Muslime von fast allen anderen europäischen Staaten positiv ab. Hier ist eine Basis gelegt, die durch den Anerkennungsstatus Muslime in den Rechtsstaat ganz direkt integriert und damit die Chance für eine echte Teilhabe legt. Weniger als anderswo, aber doch muss weiter die Frage gestellt werden, wie viel noch immer über den Islam geredet wird, anstatt MuslimInnen direkt mit einzubeziehen? Vor allem wo es um Frauenthemen geht, geraten muslimische Frauen leicht zwischen die Fronten wohlmeinender BefreierInnen hier und traditionalistischer Vertreter der eigenen Community dort, die konträr, aber in der Art des ideologischen Zugangs verblüffend ähnlich, letztlich die Definition, warum frau sich so oder so zu verhalten hätte, nicht den muslimischen Frauen selbst überlassen können. 

Wie sehr haben muslimische Frauen in Österreich Anteil an Demokratie? Dazu bedarf es auch einer Definition, worin dieses demokratische Engagement genauer besteht. Dabei geht es eindeutig um viel mehr, als nur die Frage nach der Wahlbeteiligung, so Musliminnen die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen. Vielmehr wäre Demokratie als genereller mitgestaltender Zugang in die Gesellschaft zu verstehen und reicht damit von der aktiven Teilnahme bei Elternabenden bis hin zum sich Einmischen per Leserbrief oder in einem online Forum, um den öffentlichen Diskurs zu diesem oder jenem Thema mitzugestalten und auch hinein in die Familien und die Art und Weise, wie innerfamiliär Entscheidungsprozesse verlaufen. Auf die muslimische Community bezogen bleibt zu berücksichtigen, in wieweit sich Frauen im Vereinsleben etwa von Moscheegemeinden sichtbar engagieren oder welche Positionen sie innerhalb der Islamischen Glaubensgemeinschaft, bekleiden und wie damit umgegangen wird. 

Vielfalt innerhalb der Gruppe muslimischer Frauen

Zu bedenken wäre weiters, dass muslimische Frauen in sich keine homogene Gruppe darstellen. In einer Zeit, da vor allem bei so genannten Integrationsfragen verstärkt auf das Kennzeichen der Religion abgestellt wird, soll das alleinige Fokussieren auf „den Islam“ vermieden werden. Genauso wenig wie christliche oder jüdische Frauen einzig durch ihre Religionszugehörigkeit definiert werden, lassen sich auch muslimische Frauen nicht in eine einzige Schublade stecken. Der soziale, ethnische und kulturelle Hintergrund und vor allem der Grad der persönlichen Bildung (Beherrschung der deutschen Sprache, um Teilhabe überhaupt in vollem Umfang ermöglichen zu können) oder das sich verbunden Fühlen mit dieser oder jener Denk- oder Rechtsschule im Islam spielen eine entscheidende Rolle. Mit der gebotenen Zurückhaltung bei persönlichen Beobachtungen lässt sich aber vielleicht gerade angesichts vieler emotionaler Debatten der letzten Jahre eine gewisse Solidarisierung untereinander beobachten. Egal wie Frauen es im Einzelnen mit der Glaubenspraxis halten, sehen sie ein gemeinsames Ziel darin, das verzerrte Bild des Islam und der Frauen im Islam zurechtzurücken. Bezeichnend dafür ist auch, dass sich in der Kopftuchfrage Gelassenheit breitmacht und Frauen zunehmend nicht bereit sind, in das Stück Stoff Ideologien zu winden. Frauen sprechen sich  immer öfter explizit dafür aus, den jeweiligen Umgang damit, das Tragen oder auch Nichttragen einfach zu akzeptieren. Stehen Frauen mit und ohne Kopftuch bewusst nebeneinander und füreinander ein, könnte dies dem Gedanken der Selbstbestimmung wirksam Ausdruck verleihen und einseitigen Interpretationen von „Symbol der Ungleichbehandlung“ bis „Politisches Statement“ den Boden entziehen. 

Differenzierung zwischen Tradition und Religion

Um den Blick auf die theologische Auslegung kommt man dann doch nicht herum. Die Reflexion über Normen und Verhaltensweisen und inwieweit sie aus Religion und Kultur gespeist werden, findet gerade bei jungen Musliminnen der zweiten und dritten Generation auch im Austausch untereinander statt. Denn sehr oft werden Tradition und Religion zum Nachteil von Frauen und Mädchen miteinander vermischt. Kritisch angemerkt werden soll hierbei, dass dies nicht nur eine Frage einseitiger Medienberichterstattung ist, die dem Prinzip „bad news is good news“ folgend kaum Raum für „Erfolgsgeschichten“ über Musliminnen lässt, sondern teilweise auch durch das Verhalten von Muslimen selbst bestimmt wird. Wenn Machogehabe auf Rückfrage völlig unbedarft auf die Religion geschoben wird, liegt auch hier eine Wurzel der Verstärkung von Vorurteilen. Ob dem jungen Mann, der auf die Frage, warum er bevormundend über seine Schwester spricht, ohne sie zu Wort kommen zu lassen, und sich gleichzeitig noch von ihr bedienen lässt, überhaupt bewusst ist, welchen Eindruck sein Handeln hinterlässt? Dass die scheinbar bequeme „Ausrede“, das sei so „im Islam“, um sich erst gar nicht auf weitere Diskussionen einlassen zu müssen, fatale Folgen für das Image der Muslime insgesamt hat?  Schließlich potenziert ein solches Gehabe erst recht den Eindruck der muslimischen Frau als „Opfer“, vor allem männlich dominanten Verhaltens. Aus einer solch bemitleidenswert  inaktiven und unselbständigen Rolle herauszutreten, die sich in einer fatalen Verkettung von inneren Missständen und äußerem Simplifizieren immer stärker zu etablieren scheint, ist nicht einfach. Sich als mündige, selbstbestimmte Entscheidungsträgerin zu begreifen und dementsprechend zu handeln wird erschwert, wenn die Umwelt, sei es nun die eigene Commmunity oder die „anderen“ längst auf ein bestimmtes Bild fixiert ist. Zynisch mutet es an, wenn muslimischen Frauen unter Verweis darauf, dass man nach außen nicht den Eindruck der Befürwortung oder gar Förderung antiemanzipatorischer Strömungen erwecken möchte, die Teilhabe, etwa im Berufsleben, verweigert wird. Dann schließt sich ein Teufelskreis zwischen einem Klischee und der Unmöglichkeit genau dieses Klischee durch persönliches Setzen eines Kontrapunktes zu unterlaufen. 

Rollenbilder auseinander nehmen – auch aus theologischer Sicht

Die Tatsache, dass der Islam immer wieder als Rechtfertigung vorgeschoben wird, um Frauen in den Hintergrund drängendes Verhalten scheinbar zu legitimieren, lässt die Frage, wie es sich nun tatsächlich mit der gesellschaftlichen Bedeutung der Frau aus theologischer Sicht verhält, umso bedeutender erscheinen. Vor allem eine Dekonstruktion von angeblich aus dem Islam abgeleiteten Rollenbildern kann Bewusstsein dafür wecken, dass frauenfeindliche Mechanismen aufgezeigt und überwunden werden müssen. Dabei geht es in erster Linie um einen innermuslimischen Diskurs. Diesen aber auch in der Außensicht wahrnehmbar zu gestalten ist von immenser Bedeutung, um die Tendenz abzubauen, im Islam an sich den „Feind“ von Chancengleichheit für muslimische Frauen zu sehen. 

Der Koran unterstreicht die Gleichwertigkeit der Geschlechter: „Die einen von euch sind von den anderen“ (3:195)[1]. Mann und Frau sind aus gleicher Substanz geschaffen (4:1). Zu gleichen Teilen sind sie Adressaten im Koran, in der Anrede heißt es immer wieder „ihr gläubigen Männer, ihr gläubigen Frauen“. Ja, wenn man die Anzahl des Gebrauchs des Wortes „Mann“ mit jener von „Frau“ vergleichen wollte, ergibt sich die gleiche Summe. Mann und Frau sind als Verantwortung füreinander tragende Partner beschrieben, die in freundschaftlicher Weise miteinander umgehen (9:71). Dieser Aspekt wurde auch in der Schlusserklärung der Europäischen Imamekonferenz von 2006 in Wien herausgehoben. Denn hieraus lässt sich besonders anschaulich ableiten, dass es kein hierarchisches Verhältnis zwischen den Geschlechtern geben soll. In der Ehe hat Gott „Liebe und Barmherzigkeit“ zwischen ihnen gesetzt (30:21), die Eheleute sind einander „wie eine Decke“ (2:187). 

Traditionelles Stammesdenken und sein Ehrbegriff im Kontrast zu  islamischer individueller Verantwortlichkeit und Würde

Wie kommt es dann dazu, dass Frauen immer wieder als Opfer eines streng patriarchalischen Systems gelten, bzw. tatsächlich unter Benachteiligungen leiden? Zum einen wirken vorislamische Traditionen, vor allem Stammestraditionen fort. Hier ist besonders der Ehrbegriff zu beleuchten. Stammes- oder Clandenken geht viel weniger von der persönlichen unantastbaren Würde des Einzelnen aus, obwohl gerade dieses Betonen des Individuums auch als Kern des Islam beschrieben werden kann, siehe etwa  „Und Wir versahen die Menschen mit Würde“. Im Koran finden wir das Wort „Ehre“, arabisch „scharaf“ nicht, sondern stattdessen „karamah“, Würde. Im Bedeutungsfeld schwingt anders als bei „scharaf“, das eher auf einen gesellschaftlichen Rang  wie „Adel“, „von hohem Rang“, „hochgestellt“ anspielt, bei „karamah“ Ethisches mit: Die gleiche Wortwurzel im Adjektiv „karim“ gibt Eigenschaften wie edel, hochherzig, freigiebig, wohltätig, gastfreundlich, gütig, gnädig, achtbar usw. an. Würde wird also aus der Menschlichkeit selbst abgeleitet und nicht mit einem Stand verbunden. Gerade in Verbindung mit der Diskussion um Demokratie ist eine Reflexion über derartig essentielle Fragen von immenser Bedeutung. Aus dem Islam lässt sich eine Balance ableiten zwischen der Betonung der individuellen Persönlichkeit und dem Verantwortung tragen für die Gemeinschaft. 

Nicht nur im Koran, sondern auch in der zweiten Hauptquelle des Islam, dem Hadith, also der später in Einzelberichten gesammelten vorbildhaften Lebensweise des Propheten Muhammad, wird ständig Mut gemacht, die Möglichkeit eigenen Engagements zu nutzen, sich einzusetzen. Damit wären wir auch bei einem der am meisten diskutierten Fachbegriffe angelangt: Dschihad, dem sich Einsetzen auf dem Weg Gottes. So wie ein Hadith den Ausspruch des Propheten überliefert: „Der größte Dschihad ist ein wahres Wort gegen einen Tyrannen“, vermittelt dies etwas von der Dimension, wie sehr das kritische Mitdenken und Hinterfragen auch von Machthabern gefordert ist, Kontrolle von unten im Konzept des Regierens selbst Platz haben muss. Eine Frau gibt im Koran ein Beispiel dafür: Die Frau des Pharao setzt sich über seinen Befehl alle männlichen Babys zu töten hinweg und nimmt Moses auf. – Auch ein Beleg dafür, dass eine Frau eben nicht die blinde Befehlsempfängerin eines Mannes ist. Viel zitiert wird auch jener Satz, der das Prinzip von Zivilcourage umschreibt: „Wenn du etwas siehst, das nicht in Ordnung ist, so sprich dagegen oder handle dagegen. Wenn das nicht geht, so fasse wenigstens im Herzen Widerstand.“ Es versteht sich von selbst, dass wie alle religiösen Gebote und ethischen Empfehlungen dies sowohl für Männer, als auch für Frauen gilt. Selbstbewusstsein und Mündigkeit sind im Islam also auch durch das Bildungsgebot - die intellektuellen Fähigkeiten als Gottesgabe lebenslänglich nach dem koranischen Motto: „Wollt ihr nicht nachdenken?!“ auszuschöpfen - verankerte Prinzipien. 

Solange ein sozio-kultureller Hintergrund aber dazu führt, eingebildete oder tatsächliche Erwartungshaltungen der Gruppe derartig zu verinnerlichen, dass sie im Extremfall den Maßstab des eigenen Handelns selbst gegen religiöse Gebote, ja im scharfen Kontrast zu ihnen, bestimmen, wird dieser Ausgleich zwischen der Bedeutung des Individuums und der Gesellschaft als Rahmen, indem sich das Individuum als nützliches Mitglied bewährt, zu Ungunsten des Individuellen aufgehoben. Das besonders komplexe Thema des „Ehrenmordes“ führt dies aufs Dramatischste vor. Überhaupt ist in einem solchen Stammesdenken das eigene Ansehen direkt mit jenem der verwandten Frauen verknüpft, die damit weniger individuelle Trägerinnen von Würde werden, als vielmehr Folie für den Ehrbegriff der Männer. Das islamische Prinzip: „Keine Seele kann die Last einer anderen tragen“[2] wird verlassen. Diesem entsprechend sollte es selbstverständlich sein, dass jeder und jede schließlich nur dem eigenen Gewissen folgen kann und mit persönlicher Verantwortung für das eigene Handeln einstehen muss. Stattdessen kommt eine Gruppendynamik ins Spiel, die im schlimmsten Fall einen solchen Druck  bewirkt, dass wider bessere Überzeugung Taten gesetzt werden. Besonders tragisch mutet dies vor allem dann an, wenn um gewisse Themen, vor allem bei sexueller Konnotation, gleichzeitig eine so große Tabuisierung aufgebaut wurde, dass wegen mangelnder innerer Diskussion Einstellungen weitergeschleppt werden, die längst innerlich von der Mehrheit abgelehnt werden – aber ohne dass darüber je ein befreiendes Wort gesprochen würde. 

Fehlende weibliche Perspektiven in der Auslegung – trotz eines „starken“ Beginns

Eine weitere Wurzel liegt in der Auslegungstradition an sich. Wenig überraschend bietet sich ein ähnliches Bild wie im christlichen Bereich, als Frauen über Jahrhunderte kaum in der Exegese öffentlich in Erscheinung treten konnten. Dabei gibt es zu Beginn durchaus eine Tradition gelehrter Frauen. Auf diese beziehen sich viele moderne Musliminnen, wissend um die Kraft der Argumente, die sich auf die Vorbildwirkung dieser Zeit beziehen. Chadidscha, die erste Frau des Propheten Muhammad war nicht nur gut zwanzig Jahre älter als er, sondern als gebildete Kauffrau seine Arbeitgeberin, die dem jungen Mann einen Heiratsantrag machte. Als dieser etwa fünfzehn Jahre später mit ersten Offenbarungserlebnissen nach Hause kam, war sie es, die ihn bestärkte und vor allem ihren Einfluss nutzte, um die Botschaft des Einen Gottes zu verbreiten. Die Frauen um den Propheten bieten mit ihren Biographien ganz unterschiedliche Lebenskonzeptionen und können damit auch einen Gegenpol zu jenen Traditionalisten bilden, die am liebsten über ein überbetontes Hadith wie „Das Paradies liegt unter den Füßen der Mütter“ das Rollenbild als Hausfrau und Mutter favorisieren möchten. Von der sozial engagierten Helferin der Armen bis zur hochintellektuellen Denkerin finden sich Beispiele. Umm Salama erlangte vor allem dadurch Berühmtheit, dass sie dem Propheten in einer kniffligen Situation einen politischen Ratschlag erteilte, den dieser dann erfolgreich befolgte. Hafsa wurde das kostbare erste handschriftliche Exemplar des Koran anvertraut. Über Aischa wird ehrend gesagt, man könne „die Hälfte der Religion“ bei ihr lernen, denn sie war auch dadurch, dass sie den Propheten um Jahrzehnte überlebte, eine zuverlässige Quelle in vielen Alltagsfragen, gerade wenn es um Frauenthemen ging. Historisch trat sie auch dadurch in Erscheinung, dass sie in den Diskussionen um die Nachfolge Partei ergriff und ihre Autorität demonstrativ und alles andere als unumstritten einsetzte. Fatima, eine Tochter des Propheten, öffnet bis heute vor allem spirituelle Wege, ist in ihrer starken Persönlichkeit aber auch Zeugnis für die gesellschaftliche Kraft von Frauen. 

Muslimische Frauen waren sehr präsent in der Moschee als zentralem Versammlungsplatz und Ort von Debatten. Dass sie die Gelegenheit nutzten, drängende Fragen anzusprechen, ist mehrfach überliefert. Besonders bezeichnend die Geschichte jener Frau, die sich energisch einmischte, als man die im Ehevertrag festzulegende Summe Geldes, die im Scheidungsfall als Absicherung der Frau zu zahlen ist, begrenzen wollte. Mit ihrer stichhalten Argumentation sorgte sie dafür, dass diese Idee fallengelassen wurde. Frauen fungierten als Gelehrte und unterrichteten dabei auch Männer. Erst im Mittelalter hatten sich die Umstände dahingehend gewandelt, dass der bekannte Philosoph Averroes in einem seiner Texte beklagte, der Gesellschaft gehe die „Hälfte ihres Potentials“ verloren. Der Orientalist Ismail Balic führt im Vorwort zur Übersetzung von „Die Befreiung der Frau“ von Qasim Amin, einem ägyptischen Intellektuellen der Jahrhundertwende, als Grund dafür an, dass der Islam im Zuge seiner Ausbreitung und des sich gleichzeitig verstärkenden Wohlstands zunehmend das Modell des „pater familias“ aus dem Mittelmeerraum absorbierte.[3] So fremd mutet das „Meine Frau hat es nicht nötig zu arbeiten.“ gar nicht an. Wer um den Umstand weiß, dass eine muslimische Frau theologisch in keiner Weise verpflichtet ist, von ihrem persönlichen Vermögen, etwa durch Berufstätigkeit, zum Familienauskommen beizutragen, weil dies Sache des Mannes ist, kommt unschwer zu der Überlegung, ob nicht hier ein starkes Frauenrecht Stück für Stück ausgehebelt wurde. Denn dass finanzielle Unabhängigkeit eine Frau damit ungebunden an einen „Ernährer“ macht, ist eben diesem womöglich suspekt. 

Tatsache ist, dass eine spezifisch weibliche Sicht auf theologische Fragen nach und nach verloren ging. Der oben erwähnte Autor kann als Beleg dafür dienen, wie erste Anstrengungen der Rolle der Frau endlich wieder das nötige Gewicht zu verleihen, nicht einmal von Frauen ausging. Er hatte sein Schlüsselerlebnis, als er in Frankreich hoch gebildete Frauen in den Salons erlebte, die hier ihren Einfluss entfalteten, de facto aber rechtlich weit schlechter gestellt waren, als eine muslimische Frau. Weder konnte sie vermögensrechtlich über sich bestimmen, noch war sie in der Lage, ihren Familiennamen bei Heirat beizubehalten, die sie in einen rechtlichen Stand versetzte, nicht viel anders als die Beziehung eines Mündels zum Vormund. Hatte vorher der Vater zu bestimmen, nun der Gatte. Qasim Amin beschäftigte, wie es möglich sei, dass für ägyptische Frauen eine derartige Kluft zwischen dem damaligen gegenüber Europa weitaus frauenfreundlicheren Recht und der Realität eines auf die eigenen vier Wände beschränkten Lebens bestehen konnte. Seine Hauptthese, dass der Schleier ja keineswegs dahingehend missinterpretiert werden dürfe, die Frauen aus dem Gesellschaftsleben zu verbannen, sondern im Gegenteil einen von Äußerlichkeiten freien Umgang zwischen den Geschlechtern in der Öffentlichkeit sichern soll, wird auch heute noch diskutiert. 

Dynamik, nicht Statik als muslimisches Prinzip

Heute werden Auslegungen – auch von Frauen - vor allem daraufhin untersucht, ob sie noch zeitgemäß sind. Der Islam trägt den dynamischen Anspruch in sich, dass seine Quellen jeweils vor dem Hintergrund von Zeit, Ort und handelnden Personen, also den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, neu zu beleuchten wären. Auch dies ist ein Grund für die Ausbildung einer Vielzahl von Rechtsschulen, wobei dieser Pluralismus immer positiv auch als eine Vielzahl von Optionen betrachtet wurde. Das den monotheistischen Religionen insgesamt angelastete Problem „immerwährender Wahrheit“ stellt sich so durch den im Islam selbst begründeten Anspruch nach Aufklärung und Entwicklung bei angemessener Berücksichtigung nicht als Betonierung von Positionen dar, sondern als in der Rückbeziehung auf den Einen Gott durchaus geschmeidige Form auf Basis der Quellen immer wieder neue Mechanismen für die praktische Umsetzung zu finden. Prinzipien wie der „Nützlichkeitsgedanke“ oder der Grundsatz „Was nicht verboten ist, ist erlaubt“ zeigen wie viel Spielraum hier gegeben ist. Um diesen auch wirklich auszuschöpfen, ist ein lebhafter innerer Diskussionsprozess unabdingbar. Angelegenheiten in „gegenseitiger Beratung“ zu ordnen, ist sogar in der gleich lautenden Überschrift einer Sure, „Asch-Schura“ festgehalten. Sie wird heute gerne zitiert, um Demokratie als mit dem Islam kompatiblen Mechanismus zu beschreiben. Frauen wurden selbstverständlich bei der Einigung auf die Führungsperson mit einbezogen. Das Beispiel des Propheten Muhammad zeigt, wie er bei einem entsprechenden Verfahren auch einzeln die Stimme der Frauen einholte. 

Behütetsein und Schutz oder mündige Entscheidungsfreiheit?

Eine Vielzahl von Reglementierungen bei Frauen lassen sich unter einen „Schutzgedanken“ fassen. Über die Angemessenheit von Maßnahmen zur Sicherheit in Abwägung der Gefahr eines Eingriffs in Persönlichkeitsrechte wird im Westen gerade ein breiter Diskurs geführt. Muslimische Frauen könnten hierüber ein ganz eigenes Lied singen. Nur ein Beispiel: Freilich ist es etwas ganz anderes, im 7. Jahrhundert in der arabischen Wüste per Karawane unterwegs zu sein und dabei wochenlang entweder im Freien oder in womöglich zwielichtigen Quartieren nächtigen zu müssen oder heute in ein Flugzeug einsteigen zu können. Darauf haben moderne Auslegungen reagiert, die wegen der heutigen Sicherheit im westlichen Reiseverkehr die frühere Auffassung aufgehoben haben, eine Frau dürfe ohne männlichen Schutz (seitens eines Verwandten oder des Ehemannes) nicht weiter als einen bestimmten, überschaubaren Radius reisen (Tagesreise eines Kamels, daher auch „Kamelfatwa“).  Den Charakter von Bevormundung kann aber auch die Lesweise scheinbar eindeutig „frauenfreundlicher“ Aussagen gewinnen. Berühmt ist das durch seine Gattin Aisha nach dem Hadithsammler Tirmidhi überlieferte Prophetenwort: „Der beste von euch ist der, der am besten zu den Frauen ist.“[4] Nicht gemeint dürfte hierbei sein, als Mann dann gleich zu bestimmen, was denn „das Beste“ für Frauen sei… 

Reizvoll wäre es nun genauer zu analysieren, wie muslimische Frauen immer stärker ihren Platz in der Gesellschaft einzunehmen suchen. Dabei wirken unleugbar sowohl ein neu erwachtes Selbstbewusstsein jener Musliminnen, die aus der Religion ihr Engagement ableiten und ein allgemeiner Trend zusammen, der Wörter wie „gender mainstreaming“ in den allgemeinen Sprachschatz erhob. „Tatsachen schaffen“ – dieses ehrgeizige Motto wurde unter Musliminnen in Österreich immer wieder laut. Junge Organisationen wie die MJÖ, Muslimische Jugend Österreich, die mit hunderten Mitgliedern ein gleichberechtigtes Zusammenarbeiten und Auftreten von Männern und Frauen verwirklicht, geben Hoffung, genauso wie erste muslimische Mandatarinnen, freilich noch auf der Ebene von Bezirk und Gemeinde. Sich einzumischen bedeutet freilich auch die Entscheidung das vielleicht bequeme Verstecken hinter dem Rücken anderer zugunsten mündigen eigenen Auftretens einzutauschen. Wenn kulturell bedingt aber eine eher zurückhaltende, höchstens im Hintergrund beratende und unterstützende Rolle für Frauen favorisiert wurde, ja womöglich dafür religiös noch besonderer Lohn winkt, bedarf es nicht zuletzt des sich gegenseitigen Ermutigens von Frauen selbst, sich auf einen Weg einzulassen, aus dem eigenen Schatten herauszutreten.

 

 

 



[1] Koranzitate auf Deutsch folgen im wesentlichen der Übertragung von Max Henning in der Überarbeitung von Murad Wilfried Hofmann. Istanbul 2003 

[2] Koran 2:123

[3] Qasim Amin: Die Befreiung der Frau. Aus dem Arabischen übertragen von Oskar Rescher, bearbeitet und mit einer Einführung versehen von Smail BALIC. Religionswissenschaftl. Studien, hrsg. von A.Th. KHOURY u. L. HAGEMANN, Band 20 (Einführung S. 9-26)Echter Verlag, Würzburg / Oros Verlag, Altenberge 1992 

[4] Adel Theodor Khoury (Auswahl und Übersetzung): So sprach der Prophet. Worte aus der islamischen Überlieferung. Gütersloh 1988